Martin Amanshauser

Frischer als Sushi

Vor fünfzehn Jahren hieß es, Lima sei sowas wie eine Autobahn mit Überbevölkerung. Die Distanzen in der peruanischen Hauptstadt sind tatsächlich ebenso atemberaubend wie die notorischen Abgaswolken bei Tiefdruck, und der Nahverkehr besteht aus Taxis und Kleinbussen, sogenannten „Micros“, die durch die endlose Avenida Arequipa rasen. Sie halten auf Zuruf, wenn jemand zu- oder aussteigen möchte. Dazwischen drücken die Fahrer aufs Gas, Credo: Es hilft niemandem, wenn sie die Fahrt verbremsen. Folgerichtig behaupten offizielle Statistiken, dass immerhin 21% der tödlichen Unfälle auf Unvorsicht des Fußgängers und 17% auf seine Betrunkenheit zurückzuführen sind – also Obacht! Lima ist in der Tat keine Stadt, die ihre Hand ausstreckt. Kein Wunder, dass die meisten Peru-Besucher rasch weiterziehen, zunächst nach Cusco auf den Inkatrail, vielleicht auch zum Titicacasee oder in den Regenwald an der Grenze zu Bolivien – Landstriche, in denen Peru ländlich bleibt.

Die City von Lima hingegen brodelt: Über 8 Millionen Einwohner drängen sich auf einem Küstenstreifen am Pazifik von 60 mal 30 Kilometern. Die Nachbarstadt Callao, der Hafen, ist längst dazugewachsen, verschlungen worden von einer der ziel- und endlosesten, unglaublichsten und unfassbarsten Metropolregionen der Welt. Ein konfuses Gebilde aus Asphalt, Behausungen, Elektrizitätsleitungen, das außen zerfranst – in eine soziale Realität namens „Barriadas“. In provisorischen Siedlungen leben in Lima immerhin 2 Millionen Menschen. Von Holz- und Wellblechhütten bis zu Steinbauten in mittlerweile aufgewerteten Randlagen kann die Barriada alles sein und zeugt in erster Linie vom Drang der Landbevölkerung in die Urbanität. Ein populärer Begriff für eine Halde, die sich zum Stadtteil mausert, geistert durch die Medien, die „Pueblos Jovenes“, ein als schönfärberisch verhöhntes Hoffnungswort, aber immerhin eines, das die sukzessive Legalisierung des informellen Siedlungsbaus in sich trägt. Die „Jungen Dörfer“ bedeuteten oft Zufluchtsort für Leute, die seit den Achtzigern der Tributgeld und Blut fordernden Terrororganisation Sendero Luminoso, dem Leuchtenden Pfad, ausweichen wollten.

Peru, und somit Lima, war immer politisch. Die korrupte Fujimori-Ära ist vorüber, der Bösewicht nach vielfältigen Prozessen (Anstiftung zum Mord, Korruption) hinter Gitter, und der Staat wird wieder einmal vom charismatischen Sozialisten Alan García regiert, der schon früher, als 35-jähriger jüngster Präsident des Kontinents, die Wirtschaft gegen die Wand gefahren hat. Die Wähler geben ihm jetzt die zweite Chance, vor allem, weil er in der Präsidentschafts-Stichwahl gegen den schillernden, etwas durchgeknallten Hugo-Chávez-artigen Linkspopulisten Ollanta Humala angetreten war. „Sólo dios y las bestias no cambian“, zitierte Alan García im Wahlkampf den Dichter Unamuno, nur Gott und die Ungeheuer ändern sich nie, und die Rechnung ging auf: 53 Prozent. Noch heute zieren die Parolen Limas Straßen, laut denen „Alan“ mit der Armut so richtig aufräumen wird. Man hofft weiter und hilft sich unterdessen selbst.

Im Zentrum drängen sich Kirchen, Sehenswürdigkeiten, Einkaufsmeilen um die Prunkplätze Plaza de Armas und San Martín. Die alte Stadt der Vizekönige, gegründet von Pizarro, liegt am Río Rímac, der Gletscherwasser an die Küste bringt, in unserem Jahrtausend leider beunruhigend viel Wasser. Jenseits der Brücke beginnen die bunt bemalten Armenviertel. Diesseits locken die Knochensammlungen des franziskanischen Monasterio de San Francisco aus dem 16. Jahrhundert – düstere Katakomben.

Doch ein paar Kilometer zum Meer hin gibt es noch das andere Lima, das schicke, lebensfrohe, jenes der Sommerfrische, der lauten Musik, des fließendes Biers, der teuren Weine, der Reichen, Schönen und Glücksritter. Miraflores, Luxusviertel an den Abhängen zum Pazifik, steht für gepflegte lateinamerikanische Ausgehkultur, wie es sie sonst nur in Rio oder Buenos Aires gibt. Rund um den Parque Kennedy, dem Herzen der Schausteller, Budenverkäufer und Tagediebe sind die Quadratmeterpreise ins Unwahrscheinliche gestiegen. Der Wirbel pflanzt sich in Meeresrichtung weiter von der Shoppingmeile über die Paragliding-Schanze bis zum tollen Aussichtspunkt an der Costa Verde, die gar nicht so richtig grün ist, sondern eher wirkt, als hätte ein Riese, der an Land schwamm, einmal fest in die Küstenlinie gebissen wie in einen Apfel.

Unten trotzt, auf einem ehrwürdigen schmalen Pier, der an Brighton erinnert, ein Pavillongebäude aus Schmiedeeisen den Wellen. Pelikane kreischen, weißbärtige Unentwegte paddeln auf Surfbrettern durch die kalte Flut. „La Rosa Nautica“ heißt das hübsche Lokal am Rand des pazifischen Ozeans. Einst parkten davor die schwarzen Limousinen der Politiker, Paten und Diplomaten, die ihre Leibwächter und Waffen mitbrachten, heute nimmt das exklusive Restaurant auch gerne Volk auf – jenes, das es sich leisten kann, für ein Dinner den Wochenlohn durchschnittlicher peruanischer Angestellter auszugeben. Die Rose zieht heute nicht nur wegen ihrer privilegierten Lage internationale Gäste an – hier tritt die Jakobsmuschel bescheiden auf, als wäre sie nie in Inflation geraten, und der „Salat mit drei Herzen“ (Palmen, Artischocken, Eisberg) erinnert ans grüne Hinterland, weit hinter den Klippen.

Es gab Zeiten, da assoziierte man mit peruanischer Küche das Meerschweinchen aus Opas Zucht. Womöglich als Mittagsmenü im Dorflokal am Hauptplatz. „Cuy“, das Haustier mit der dünnen Haut und dem kargen Fleischanteil, galt als jene Spezialität, die Besucher nur ein einziges Mal bestellen – in Meerschweinhälften halbiert lag das Tierchen am Teller, viele Vorwitzige überließen dann doch den Einheimischen den Leckerbissen. Guter Cuy ist schwer zuzubereiten, räumt auch der Kellner der Rosa Nautica ein, und er gehört nicht auf einen Pier, sondern ins Landgasthaus.

Auch in den Nachbarländern, die Peru traditionell skeptisch gegenüberstehen, spricht sich herum, dass eine Sache wirklich toll ist: die Peruaner können kochen. „Wir stehen dort, wo das mexikanische Essen vor einem Vierteljahrhundert ist“, erklärt Starkoch Gastón Acúrio gerne in Interviews, „die Welt ist auf unsere Küche aufmerksam geworden, und inzwischen florieren peruanische High-End-Lokale in Seattle, New York und San Francisco.“ Der omnipräsente Fernsehkoch will Peru mit seinem Essen zu einer Marke machen. Der Rohstoff ist großartig und gipfelt in einem Gericht, das für viele als bestes Seafood der Welt gilt: Ceviche. Das ist roher Fisch, mariniert in Limettensaft, mit Zwiebel, Knoblauch und Süßkartoffel. Die Limette, die 15 Minuten vor dem Servieren appliziert wird, löst im Fisch eine chemische Reaktion aus, die dem Garen ähnelt: ein Kochprozess ohne Temperaturänderung. Ceviche ist wie Sushi – nur besser und frischer.

Gastón Acúrio, der lokale Jamie Oliver, stammt aus der Limaer Oberschicht, lernte in Madrid und Paris, und möchte seinem Land etwas von jenem Selbstbewusstsein zurückgeben, das für ihn immer selbstverständlich war. Gemeinsam mit seiner deutschen Frau eröffnete er das Feinschmecker-Lokal „Astrid y Gastón“ und begründete die „Cocina Novoandina“. Ihm fiel aber auch ein, dass eine Cevicheria überall stehen kann – in seinem internationalen Konzept „La Mar“ hat er diesen Traum verwirklicht. „Wir wollten Ceviche so unkompliziert haben wie daheim. Das Lokal soll offen sein. Die Produkte müssen schmecken. Man braucht Musik. Und eben auch das peruanische Chaos“, begründet er die Philosophie. „Früher wusste auch niemand, was Fajitas und Tacos sind, und jetzt kann man die Basis dafür in jedem größeren Supermarkt der Welt kaufen.“

Mittlerweile findet man die klassische peruanische Cevicheria an jeder Ecke Limas. Aber es gibt weit mehr! Populär sind die Antichuchos, Spieße mit Herzfleisch, Huhn und Hühnerleber, wie sie etwa im Küstenviertel Barranco, einst ein mondänes Seebad in der Vorstadt, auf der Straße verkauft werden, aber auch Seebrasse, Flunderfilet oder das allgegenwärtige schmackhafte Fleischgericht Lomo Saltado. Eine Besonderheit ist die Chifa-Küche der chinesischen Einwanderer, in der sich lateinamerikanische und kantonesische Speisen mischen; Chifalokale bieten oft die günstigste Menü-Option.

Und die Getränke? Neben dem populären, süßen Zuckergetränk „Inca Cola“ existiert noch das echte Inka-Getränk Chicha und seine antialkoholische Variante Chica morada aus lilafarbenem Mais. Zeuge der Rivalität mit dem Nachbarn und Rivalen Chile ist hingegen das Nationalgetränk Pisco Sour, das brisanterweise auch beim Nachbarn Nationalgetränk ist, ein Cocktail aus Pisco-Brandy, Limettensaft, Eiweiß, Sirup und Angostura Bitter. Wirkungsvoller Nationalismus wird ohnehin dringend benötigt, seit die Fußball-Nationalmannschaft mit dem stolzen roten Streifen am weißen Dress in einem Skandal-Sumpf versank und mittlerweile als schwächste des Kontinents gilt. Die Peruaner sollen Pisco zuerst erzeugt haben, doch die Chilenen verfügen über das deutlich bessere Marketing und beherrschen den Export. Um die Pisco-Hegemonie zu unterstreichen, wird nichts unversucht gelassen: Parallel zu diplomatischen Schachzügen hat Peru einen jährlichen nationalen Pisco-Sour-Tag eingeführt.